Interview mit Claus Weselsky, Bundesehrenvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL)
Haben Sie einen Plan, um runterzudimmen?
Ein Gespräch über Schichtarbeit als Verhandlungstraining, stolze Lokomotivführer, den Umgang mit Medien und Spreewaldkähne.
Claus Weselsky zum Interview zu treffen, ist nicht einfach. Auch im Ruhestand ist der Mann überaus gefragt. Wir treffen in seinem Büro auf einen temperamentvollen und witzigen Gesprächspartner, der sich gezielt Zeit nimmt für das Gespräch.
Herr Weselsky, seit September sind Sie offiziell im Ruhestand. Aber Sie geben so viele Interviews. Arbeiten Sie nicht einfach genauso weiter wie zuvor?
Ruhestand? Meine Frau sagt: ‚Schön, wenn du mal montags da bist oder schon am Freitag‘, ansonsten bin ich noch komplett unterwegs.
Das mit den vielen Interviewanfragen ist in der Tat interessant, da weiß ich auch noch nicht so richtig, wie ich das einzuordnen habe. Erstens habe ich das Gefühl, dass die Medien was gutmachen wollen. Zeit, Süddeutsche, Spiegel … alle im sehr positiven Ton. Zweiter Aspekt: Jetzt kommen verstärkt Institutionen auf mich zu und wollen mich als Keynote-Speaker, Bühnengesprächspartner, Verhandlungsstrategen. Die buchen mich jetzt. Als GDL-Vorsitzender habe ich das alles kostenlos gemacht, jetzt lasse mich vom London Speaker Bureau (LSB) bei solchen Buchungsanfragen vertreten, denn deren Expertise in diesem Segment kann ich mit meiner Berufserfahrung nicht abbilden.
Haben Sie auch einen Plan, um runterzudimmen?
Hören Sie mal, ich bin ja schon runtergedimmt. (lacht) Seit ich nicht mehr Vorsitzender bin, sind die administrativen Aufgaben weg. Plötzlich klingelt das Telefon nicht mehr, meine Sekretärin ruft mich nur noch einmal unter der Woche an. Und ich wollte auch nicht auf null, das wäre ein Desaster! Da wäre ich unzufrieden mit mir selbst. Aber ich bin jetzt vier Wochen im Urlaub gewesen und danach flacht es erfahrungsgemäß etwas ab.
Wie kamen Sie zur GDL?
Ich war 1990 Lokomotivführer in Pirna. Die Mauer war zwar gefallen, aber wir waren noch mitten in der DDR. Kommt mein ehemaliger Lehrlokomotivführer Lothar Hadsik auf mich zu und sagt: ‚Hier stimmt was nicht. Am 24. Januar 1990 wurde in Halle die GDL-DDR in freier Versammlung von 95 Gründungsmitgliedern aus der Taufe gehoben. Im Bw-Dresden steppt der Bär und bei uns in der Einsatzstelle ist es ganz ruhig.‘ Die haben den FDGB (den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, die Einheitsgewerkschaft der DDR, die Weselsky einen Wurmfortsatz der SED nennt) aus dem Büro geschmissen, deren Kasse konfisziert und gesagt, macht euch vom Acker, wir haben hier jetzt unsere eigene Gewerkschaft. Und Hadsik, der sein Leben lang in der Partei war, meint zu mir: „Claus, in der neuen Zeit müssen neue Leute ran, die keine SED-Vergangenheit haben. Du hast schon immer deine Meinung offen gesagt.“ Damit war ich plötzlich GDL-Mitglied, Vertrauensperson für unsere Einsatzstelle und nach kurzer Zeit der erste Vorsitzende der neu gegründeten Ortsgruppe Pirna.
Die Idee bei der GDL war: Ab jetzt vertreten wir unsere berufsständischen Interessen selbst! Erst ging es darum, dass die Lokomotivführer in den neuen Bundesländern auch den Beamtenstatus bekommen, wie die 100 Prozent in den alten Bundesländern. Dann kam der Personalabbau, der mit der Wende sofort einsetzte. Unser erster Warnstreik der GDL-DDR 1990 dauerte drei Stunden. Da haben die Lokomotivführer in der DDR für die Umstellung des Lohnes 1:1 gekämpft. Es gab die Diskussion, 2:1 umzustellen bei der Währungsunion. Es war uns damals ein Bedürfnis, für die Berufskollegen da zu sein und sie zu beschützen. Das ist auch heute noch so. Mit der Entscheidung zur Privatisierung der DB und DR zur DB AG ging der Beamtenstatus der Lokomotivführer de facto unter.
Bloß 18 Prozent sind gewerkschaftlich organisiert. Wie blicken Sie darauf?
Es ist gar nicht so einfach, Menschen abzuholen und ihnen klarzumachen, dass die Gewerkschaft die Wurzel alles Guten ist. Wir wären heute noch in der 80-Stunden-Woche und hätten keinen Urlaub, wenn es Gewerkschaften nicht gäbe.
Ein alter Weggefährte hat mich gelehrt: ‚Du kannst nur jemanden für eine Idee entzünden, wenn du selbst für die Sache brennst.‘ Meine innere Überzeugung kam aus meinem Beruf. Alles, was um uns herum passierte, war darauf ausgerichtet, den Beruf zu entwerten, vor allem sollte die Arbeit preiswerter werden. Teils waren das Dumpinglöhne. Ich wollte, dass der Beruf des Lokomotivführers dauerhaft positiv verankert wird und jeder der ihn ausübt auch stolz bleibt.
Sie gelten als Verhandler mit enormem Durchhaltevermögen; nach außen wirkte das mitunter kompromisslos. Wo kam das her?
Sie müssen Ideen entwickeln und Freude generieren. Die Bahn versorgt „Bild“ mit Infos, die auf meine Person abzielen, weil sie wissen: Wenn die Person beschädigt ist, gerät auch die Organisation ins Wanken. Sie haben es x-mal probiert, aber sind immer gescheitert. Ich wurde immer besser, und ich muss sagen: Es hat auch immer mehr Freude gemacht, sich gegen Ungerechtigkeit und gierige Führungskräfte ohne Eisenbahnsachverstand bei der DB AG zu wehren.
Und die Kondition?
Das fängt sofort in der Ausbildung an. Als Lokomotivführer arbeiten Sie in Schichten. Sie müssen darauf trainiert sein, in jeder Situation wach zu bleiben und auch einschlafen zu können. Dieses Powernapping, wir haben es früher Erschöpfungsschlaf genannt, führt dazu, dass Sie eine gewisse Resistenz haben und Ihren Biorhythmus anpassen können. Das hilft in Verhandlungssituationen.
Sie haben sich nicht geschont, körperlich. Wie bleiben Sie fit?
Mitunter haben Sie unendlich lange Tage. Die längste Verhandlung war 27,5 Stunden am Stück. Da hatte ich mal zehn Minuten den Kopf zurück auf die Lehne gelegt.
Weselsky legt den Kopf in den Nacken, doch die Sitzlehne ist zu kurz – dann deutet er auf seinen Schreibtischstuhl: Mit dem ginge es besser. Ich habe eine gewisse Resistenz und kann mich anpassen. In den intensiven Phasen der Tarifrunden habe ich meistens nur drei Stunden pro Tag geschlafen.
Wenn ich angespannt bin, esse ich immer zu viel. Die mentale Belastung ist auch nicht ohne, weil ich immer vorne stand in der Öffentlichkeit, das geht nicht spurlos an einem vorüber. Da müssen Sie was suchen: Yoga, Osteopathie. Ich habe versucht, Stress zu kompensieren und die Gesundheit im Hintergrund zu stabilisieren.
Sie haben sich nie auf die Arbeitsbedingungen der Mitglieder beschränkt, sich umfassend geäußert zum System Bahn, zur Infrastrukturpolitik. Wie weit geht Gewerkschaftsarbeit?
Es gibt keine Grenze. Wenn du für das System bist, musst du auch ganzheitlich für das System denken und stehen. Das geht bis in die Wirtschaft, bis in die Politik hinein. Wir als GDL äußern uns aber nur zu unserem Segment, also zur Eisenbahn. Ich sage immer: Schuster, bleib bei deinen Leisten, davon verstehst du am meisten. Aber da geht es wiederum um alles. Und man muss den Arbeitskampfdruck nutzen, zum Guten des Systems. Und ich habe Gutes getan: Verhindert, dass die ehrenwerten Eisenbahnerberufe wie Schmuddelkinder behandelt werden, das Gehalt der Lokomotivführer verdoppelt, die Arbeitszeit reduziert. Wenn es sein musste, mit brachialer Gewalt. Wir haben den Machthebel zum Wohle der Mitglieder und des Eisenbahnsystems genutzt. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte: Nur weil wir immer wieder angegriffen worden sind, konnten wir in so kurzer Zeit so erfolgreich Entgelt- und Arbeitszeitbedingungen bei den Eisenbahnen verbessern.
Sie haben den Ihnen angebotenen Posten eines Personalvorstandes im Netz nicht angenommen. Hätten Sie dann nicht das System von innen umkrempeln können?
Das ist das Märchen, das immer nur die erzählt haben, die selbst gewechselt sind. Das ist nicht möglich. Wenn du auf der anderen Seite bist, dann bist du auf der anderen Seite. Wenn du fast eine Million verdienst, dann machst du das, was da erforderlich ist. Und zwar zu 100 Prozent.
Sie waren für die Medien regelmäßig der Buhmann der Nation. Das zielte teils heftig unter die Gürtellinie. Die „Bild“ hat mal Ihre Büronummer veröffentlicht, Ihre Privatadresse stand in der Zeitung, Sie wurden verleumdet, bekamen Drohmails, Verhandlungsdetails wurden an die „Bild“ durchgestochen. Wie haben Sie den Umgang mit den Medien erlernt?
Meine erste Lehrstunde habe ich bekommen, da war ich 1996 Pressesprecher im Sächsischen Beamtenbund. Da hat es ein sehr langes Interview des MDR über Beamte gegeben. Irgendwann kam die Frage: „Schläft ein Beamter im Büro auch mal?“ Da habe ich gesagt: Das kann schon mal vorkommen. Das war der einzige Satz, der gesendet wurde! Von da an habe ich sortiert. Ich dachte: Mit mir nicht noch einmal, jetzt müssen die sich das Vertrauen erst mal erarbeiten.
Ich reagiere nicht mehr auf Anfragen von „Bild“. Ich bin stolz drauf, dass ich sage: Ihr könnt mich mal! Die sollen schreiben, was sie wollen, das machen sie sowieso. Vor allem dichten sie gerne noch etwas dazu, was nicht stimmt.
Sie kommen bei den Satirikern ganz gut weg. Jan Böhmermann widmete den Lokführern und speziell Ihnen eine Lobeshymne …
Mittlerweile eine Hymne unter den Eisenbahnern, unglaublich berührend. Das Beste in Bildern ist eine Zeichnung von Heiko Sakurai, wo Joe Biden sagt: „Wir führen zwar Supermächte an, aber der härteste Hund, mit dem wir uns beide nicht anlegen würden, ...“, und Xi ergänzt: „... ist Claus Weselsky!“ Das ist ein Ritterschlag.
Auch für Berufspendler und Ferienfahrer waren Sie lange ein rotes Tuch. Haben Sie sich hier im Berliner Büro noch runter auf die Friedrichstraße getraut?
Es hat nie einen Vorfall gegeben. Ich bin immer Bahn gefahren. Ich setzte mich mal auf meinen Platz im Speisewagen, da baute sich vor mir eine Dame auf, die war Tagespendlerin Leipzig–Berlin, und die sagte: „Herr Weselsky, das tut man nicht!“ Ich bin aufgestanden, erst mal auf Augenhöhe gegangen, und habe gesagt: „Aber wissen Sie denn eigentlich, warum der Herr Weselsky das tut?“ Dann habe ich sie ins Gespräch verwickelt. Und alle anderen im Wagen haben sich umgedreht und zugehört. Ich habe allen Anwesenden Rede und Antwort gestanden. Als wir in Leipzig ankamen, sagte die Dame: „Okay, schön ist es für uns nicht, aber wir haben es jetzt wenigstens verstanden.“ Dann stand einer auf und sagte: „Herr Weselsky, machen Sie weiter, halten Sie durch. Aber tun Sie uns den Gefallen und machen Sie, dass es schnell geht.“ Alle haben mir die Hand geschüttelt beim Aussteigen.
Es ist vollkommen normal, dass die Leute Wut im Bauch haben, wenn wir ihnen im Streik das Verkehrsmittel entziehen. Die müssen ihr Leben neu organisieren. Das kriegt man nicht einfach eingefangen und deshalb richtet sich auch deren erste Reaktion gegen unseren Streik. Und ich sehe es als meine Aufgabe, mich vor unsere Mitglieder zu stellen. Das mache ich, indem ich unsere Mitglieder über die Hintergründe aufkläre, damit sie letztendlich unserer Botschaft glauben und nicht der Schlagzeile in der Bild.
Sie wollen im Ruhestand in den Spreewald umziehen, wo Ihre Familie ein Häuschen hat. Das ist nur schwer vorstellbar: Sie staken im Kahn durch die Fließe und lassen die anderen machen …
Den Spreewaldkahn haben wir noch nicht abgeholt und das mit dem Staken muss ich noch üben … Und wir haben ein großes Stück Streuobstwiese. Da wächst allerdings gerade nur Unkraut. Ich muss mit der großen Maschine da einmal durch, umackern und erst mal was einsähen. Danach könnte ich auch mit der Sense mähen. Das habe ich schon als Bauernkind auf unseren Hof gelernt. Allerdings fehlt mir im Moment eine anständige Sense. Die Dinger, die man im Baumarkt kriegt, sind Schrott.
Außerdem möchte ich mehr tauchen, so wie gerade in Sri Lanka.
Ich gebe mein Wissen gerne an junge Menschen weiter, wenn das gewünscht ist. Das habe ich schon gemacht, bei der Gewerkschaft der Sozialversicherung. Ich gebe auch Seminare. Meine Botschaft ist: Man muss sich der Sache verpflichtet fühlen, dann hält man auch den Druck aus … Das macht man nicht bloß als Karrieresprungbrett. Ohne Idealismus können wir als Gewerkschaften nicht existieren.
Was werden Sie besonders vermissen?
Das Bad in der Menge ist schon genial. Wenn Sie die Leute mitreißen können, das macht Spaß.
Beim Verlassen des Büros kommt die Interviewerin an einem kleinen Glassturz mit vier vergoldete (Plastik-)Wirbeln vorbei. Kollegen aus NRW hatten Weselsky zum Abschied das „goldene Rückgrat“ verliehen.
Die Fragen stellten Anke Adamik und Christoph Dierking.
Text: Anke Adamik